Mit dem Projekt „Vom Verschwinden. Kulturen des Entomonischen“ erkunden wir kollaborativ die Möglichkeiten des Verstehens von Insekten, des Einfühlens in ihre Lebensform und vielleicht sogar der „entomonischen Anverwandlung“. Hier sollen ausgewählte Erlebnisberichte mit Insekten veröffentlicht werden. Dazu gibt es von uns folgende öffentliche Ausschreibung:
AUSSCHREIBUNG:
Entomonische Geschichten gesucht!
Wir laden ein zum Teilen von eindrücklichen persönlichen Erlebnissen, die man/frau im eigenen Leben mit einem oder mehreren Insekten gemacht hat. Dazu starten wir diese öffentliche Ausschreibung mit drei Fragen:
Frage 1: Was war deine intensivste Begegnung mit einem Insekt /Insekten?
Frage 2: Mit welchem Insekt würdest Du Dich am ehesten identifizieren?
Frage 3: Insekten werden oft übersehen bzw. nicht wahrgenommen. – Versuche, Dich an eine Situation zu erinnern, als Du Dich zuletzt übersehen bzw. nicht wahrgenommen gefühlt hast! – Ist es Dir möglich über diese Erinnerung ein verwandtschaftlich(er)es Gefühl für Dein Insekt aufzubringen?
Alle, die, die Idee dieser Website und das Entomonische Manifest unterstützen, können uns ihre persönliche Insekten-Geschichte und ihre Antworten auf die ersten beiden Fragen dieser Ausschreibung zuschicken an: info@kurt-mondaugen.de. Diese möchten wir nach einer Kuratierung veröffentlichen.
aus dem haus gehen und
an der tür eine ausserirdische finden
scheu erhobene arme
sammlung vor einem angriff
der niemals kommt
ich könnte auch mal ein männchen fressen und mich
großäugig an fremde türen kleben
oder dir meine liebe gestehen
du wunder schönheit
vorgetäuscht mit frommer hand
blicke ich reuig in dein dreiecksgesicht
schau mich an
nage an mir nur ein wenig
segne mich mit deiner fingerspitze
du unschuld
tötest nur einmal und
bist nur einmal satt
Linn Penelope Rieger
Zur Person: Linn Penelope Rieger wurde 1992 im Thüringer Wald geboren und arbeitet als Autorin, Dozentin, Literaturkritikerin, Moderatorin und Geschäftsführerin der Edit und des Netzwerk Lyrik e.V. in Leipzig. Ihr Debüt »Abraum, schilfern« erschien im Oktober 2022 bei Trottoir Noir Im Oktober 2025 erscheint »Zerbrochenes Feuer. Vulkane und das Ende der Welt« bei Matthes und Seitz. Zusammen mit Josef Braun spricht sie in ihrem Podcast Wasser und Buch über Bücher, das Schreiben und den Literaturbetrieb.
Fotocredits: Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird GüntherR als Autor angenommen (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben). - Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird angenommen, dass es sich um ein eigenes Werk handelt (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben)., CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=334396
Auszug aus Kapitel 1 des gleichnamigen Kinderbuches von Carl Christian Elze (Voland & Quist Berlin 2025; Illustrationen: Nele Brönner)
Inhalt:
Williams Eltern streiten sich. Immer wieder. Mal leise, mal laut. Das macht William sehr traurig. Doch darüber sprechen möchte er nicht, auch nicht mit seinem großen Bruder Paul. Als plötzlich der Fliegenkönig – eine schrullige, nicht mehr ganz fitte Schmeißfliege mit erheblichen Flugproblemen – zwischen seinen Spielsachen auftaucht, beginnt für William ein großes Abenteuer. Er hilft der Fliege bei der Reparatur ihrer Flügel und danach hilft sie ihm. Mit ihrer Zuwendung, ihrer Lebensweisheit und ihren Zauberkräften zeigt sie William einen ungewöhnlichen Weg auf, wie seine Eltern ihn besser verstehen können. Unbemerkt krabbelt er zuerst in das Ohr seines Vaters und dann in das seiner Mutter. Dort kann er ihnen endlich von seiner Traurigkeit erzählen. Nachdem William sein Herz geöffnet hat, ändern sich die Dinge. Ein kleines Wunder geschieht.
Textauszug Kapitel 1:
... Gerade als er die Falltür seiner Ritterburg betätigen wollte, um ganz unten im Verlies nach seinen Plasteskeletten, Schwertern und Schatztruhen zu sehen, hörte er ein Summen. Neben dem Teppich auf dem glatten Holzfußboden drehte sich eine große, goldgrün glänzende Fliege. Paul nannte solche glänzenden, dicken Fliegen immer Scheißhausfliegen, obwohl sie so schön waren. Viel schöner als die ganz schwarzen, dachte William, die oft in der Wohnung herumflogen und sich frühmorgens gerne auf sein verschwitztes Gesicht setzten. Dann wurde er viel früher als sonst wach und rüttelte an Mama und Papa, die vor lauter Müdigkeit jammerten. Aber noch nie hatte William eine Fliege gesehen, die so komische Sachen machte: Wie ein Karussell war sie. Jetzt hielt sie an und blieb ruhig sitzen. William bewegte die Hand, um sie zu verscheuchen, aber die Fliege begann gleich wieder zu brummen und sich im Kreis zu drehen. Diesmal noch schneller. Vielleicht konnte sie nicht mehr fliegen? Irgendwas hatte sie. Irgendwas mit den Flügeln, dachte William, der mit dem Gesicht näher herangegangen war, oder mit den Beinen, oder mit den großen, halbkugligen roten Augen. Irgendwas stimmte nicht mit ihr.
Am liebsten wäre William zu Papa in die Küche gegangen, um mit ihm die Fliege zu retten, denn Papa war ein Meister im Tierretten. Er schlug nichts zu Brei, außer vielleicht die gemeinsten Mücken, und versuchte jede Biene, jede Spinne und jeden Käfer lebendig aus der Wohnung zu tragen. Irgendein Urururgroßvater von Papa hatte sogar Marmelade auf die Fensterbretter geschmiert, um seine Hausfliegen zu füttern. Das machte Papa natürlich nicht, da hätte er noch mehr Probleme mit Mama bekommen. Aber Tiere retten, das konnte er! Doch heute war es ungünstig, ihn um Hilfe zu bitten. Er war traurig und schrieb irgendwas, was ihn hoffentlich wieder fröhlicher macht, dachte William, das hatte er schon öfter bei Papa erlebt. Heute musste er selber eine Lösung finden.
William versuchte, die sich drehende, zappelnde, brummende, goldglänzende Fliege auf einen der Bierdeckel zu bekommen, um sie dann runter in den Garten zu bringen. Leider wurde die Fliege immer wilder und verrückter, machte sogar ein paar Flugversuche und fiel wieder auf den Boden. Ein Becher oder eine Tasse zum Drüberstülpen wäre gut, und dann den Bierdeckel drunterschieben. Doch dafür müsste er in die Küche, dachte William. Aber das ging nicht. Am besten, er schob die Fliege zunächst einmal in die Burg hinein, ins Gefängnis, wo sie sich beruhigen konnte.
William stupste die brummende, sich drehende Fliege mit dem Bierdeckel immer näher zur Burg, er musste nur noch die seitliche Tür des Burgturms öffnen. Gerade als er die seltsame Fliege ins Gefängnis hineinschieben wollte, hörte er eine Stimme, die ganz außer Atem war.
„Jungchen, jetzt lass doch den Blödsinn! Mein Schwingkölbchen klemmt und ich bin am Verdursten.“
Was war das? William war wie vom Blitz getroffen. Wer hatte gerade mit ihm gesprochen? War es einer seiner Ritter gewesen? Oder ein Drache?
„Schieb mich nicht in die Burg, gib mir was zu trinken, Jungchen, aber schnell!“
Nein, es war die Fliege gewesen. Die goldgrün glänzende Fliege, die sich gerade nicht drehte. So fliegenhaft klein wie sie war, hatte ihre Stimme doch laut und deutlich geklungen, als ob Mama oder Papa was gesagt hätten. William hockte starr vor Schreck auf dem Teppich und traute sich nicht zu sprechen.
„Kannst du mir helfen, Jungchen? Wie heißt du denn?“
Die Stimme klang alt und gebrechlich. Wie die Stimme eines alten Mannes, der tatsächlich Hilfe brauchte. Langsam löste sich William aus seiner Erstarrung. Er setzte sich aufrechter hin, guckte die Fliege nicht direkt an und nahm all seinen Mut zusammen.
„Ich bin William“, sagte er. Dann schwieg er wieder.
„Soso, William, also Willi. Ein schöner Name. Du wirst doch Willi genannt, oder?“, fragte die Fliege.
„Nein, William.“
„Auch gut. Also William, mein Jungchen, kannst du mir Wasser bringen?“
„Ich kann nicht in die Küche“, antwortete William.
„Ach eure Küche, eure herrliche Küche, warum kannst du da nicht hinein?“, fragte die Fliege etwas weinerlich.
„Weil mein Papa dort arbeitet.“
„Papperlapapp, ist doch egal, hol dir ein Glas Wasser, William, es ist Sommer. Niemand will, dass du austrocknest. Sag, du bist schon ganz lapprig, du musst trinken.“
„Nein“, sagte William.
„Nein, sagst du. Na so was“, brummte die Fliege. „Dann geh bitte ins Bad und hol mir ein Tröpfchen Wasser aus eurem Klo.“
„Ich greif nicht ins Klo“, antwortete William sofort.
„Und euer Waschbecken?“
„Ist kaputt. Wird am Montag repariert.“
„Oje oje, dann muss ich wirklich verdursten, ich werde noch verrückt“, jammerte die Fliege und begann sich wieder zu drehen.
„Na gut“, sagte William schließlich, „ich geh ja schon.“
„In die Küche?“
„Ja, in die Küche.“
„Danke, Willi, vielen Dank!“
William versuchte, so leise wie möglich zu sein, als er die Küche betrat. Sein Papa schrieb tatsächlich und war ganz darin versunken. Er merkte noch nicht einmal, dass William an der Spüle ein Glas Wasser volllaufen ließ.
William hatte selbst Durst bekommen und nahm den ersten großen Schluck. Als er wieder auf dem Teppich saß, lächelte ihn die Fliege an. Er hätte nicht sagen können, wie sie das machte, denn man sah keinen richtigen Mund bei ihr, da hing nur ein kleiner Rüssel, der jetzt aufgeregt hin- und herbaumelte, aber die Fliege lächelte wirklich, lächelte irgendwie.
„Gut gemacht, Jungchen, schütte mir einfach was hin“, sagte sie.
„Aber ich darf nichts verschütten“, antwortete William.
„Ist doch nur Wasser, Willi. Schütte was in den Helm dort, von deinem Ritter, da kann ich draus trinken.“
William zögerte einen Moment, dann nahm er seinem Lieblingsritter den Helm ab, tauchte ihn ins Wasserglas, bis er voll war, und stellte ihn auf den Teppich. Die Fliege krabbelte eilig hin, ganz ohne Dreher, und tunkte sofort ihren kleinen Rüssel in den Helm. William war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob ihm das gefiel. Er musste wieder daran denken, wie Paul solche glänzenden, dicken Fliegen nannte. Die Fliege trank und trank. William nahm all seinen Mut zusammen und fragte:
„Bist du eine Scheißhausfliege?“
Die Fliege zuckte zusammen, zog ihren Leckrüssel ein wenig aus dem Helm und schüttelte sich kurz. „Wer sagt denn sowas?“
„Mein großer Bruder.“
„Und was soll das überhaupt sein, eine Scheißhausfliege, hab ich ja noch nie gehört“, schwindelte die Scheißhausfliege.
„Na, so eine Fliege, die auch … du weißt schon … isst“, stammelte William.
„Ach so, jetzt verstehe ich, Willi. Na, das ist ein weites Feld. Also, wenn du mich fragst, ist das Geschmackssache.“
„Also stimmt es?“, fragte William mit pochendem Herzen.
„Immer sachte, Willi, ich erklär dir gleich alles. Aber lass mich erstmal weitertrinken.“
Jetzt trank die Fliege Williams Lieblingsritterhelm fast zur Hälfte leer.
„So, jetzt bin ich erfrischt, Willi!“
„Ich heiße William.“
„Natürlich, William! Weißt du was, William, ich heiße auch William“, sagte die Fliege gut gelaunt.
„Das ist nicht wahr“, rief William.
„Doch doch, alles wahr. William der Einhundertvierundzwanzigste. Deshalb würde ich ja gerne Willi zu dir sagen, damit es nicht unnötig kompliziert wird.“
William stutzte. „Na gut, dann eben Willi“, sagte er. „Und warum der Einhundertvierundzwanzigste?“
„Ganz einfach, weil ich der König bin, der Einhundertvierundzwanzigste, das nennt man Erbfolge“, antwortete die Fliege.
„Der König der Fliegen?“ William konnte es nicht fassen.
„Du sagst es, Willi. Du hast gerade den König der Goldfliegen gerettet“, schmunzelte die Fliege und ruckelte ein Stück näher an William heran.
„Oder den König der Scheißhausfliegen“, sagte William und sein Gesicht begann zu strahlen.
„Nanana, ich bevorzuge den Namen Goldfliege und ehrlich gesagt: Wenn ich jeden Tag an ein leckeres Wurst- oder Käsebrot herankäme wie du, würde ich mich immer für so ein Königsessen entscheiden. Aber sag mal, Willi, kannst du mir noch einen Gefallen tun?“
„Und welchen?“
„Du müsstest eines meiner Schwingkölbchen wieder einrenken.“
„Schwingkölbchen?“, fragte William.
„Ja, ich habe zwei davon, hinter meinen Vorderflügeln. Winzige Knuppel. Die sind wie meine Lenkräder. Was denkst du, warum ich mich ständig im Kreis drehe und brumme?“
„Wegen der Schwingkölbchen.“
„Ganz genau. Wegen des einen kaputten Schwingkölbchens und wegen des Durstes. Ein verdammt heißer Sommer ist das. Mit dem Durst, das ist erledigt, ich kann wieder abheben, jetzt kommt das Schwingkölbchen dran.“
„Aber meine Finger sind viel zu groß“, sagte William, der beim besten Willen keine Schwingkölbchen erkennen konnte, sie mussten wirklich sehr klein sein.
„Das stimmt, Willi, absolut korrekt ist das. Wir müssen dich stark verkleinern, sodass du auf mir reiten und mich fliegen kannst, nur im Flug lassen sich Schwingkölbchen reparieren.“
William war sprachlos.
„Und?“, fragte die Fliege.
„Das geht nicht“, antwortete William ängstlich, „das geht nur im Film.“
„Papperlapapp, vergiss nicht, ich bin der König der Goldfliegen, Willi. Natürlich geht das. Bist du bereit?“
„Zum Verkleinern?“ William stand vor Schreck vom Teppich auf und ging einen Schritt zurück.
„Du musst keine Angst haben, wir drehen eine kleine Runde durch die Wohnung, du renkst mein Schwingkölbchen ein und wir landen wieder genau hier an deiner Ritterburg und ich mach dich wieder groß.“
„Wirklich?“
„Versprochen“, sagte die Fliege, „ich bin schließlich William der Einhundertvierundzwanzigste.“
William hockte sich wieder hin.
„Und jetzt pass auf: Du musst mir vorsichtig drei Mal übers Rückenfell fahren mit deinem kleinsten Finger, aber ganz ganz vorsichtig.“
„Damit ich dir nicht die Knochen breche?“
„Ich habe gar keine Knochen, aber damit du mir nicht die Vorderflügel zerdrückst. Das Schwingkölbchenproblem reicht mir schon. Ein typisches Altersproblem, weißt du, ich bin schon vier Wochen alt.“
„Dann bist du ja noch ein Baby“, sagte William erstaunt.
„Nein nein, bei uns Goldfliegen ticken die Uhren anders, Willi, ich bin schon uralt“, lachte die Fliege. „Bald wird es einen neuen König oder eine neue Königin geben: William den Einhundertfünfundzwanzigsten oder Wilhelmine, die Zweihundertzwölfte. Bist du bereit?“
William überlegte noch einmal, ob er nicht lieber doch in die Küche gehen und seinem Vater alles erzählen sollte, damit der sich verkleinern ließe, um das Schwingkölbchen zu reparieren. Aber auf einmal spürte er in seinem Bauch einen riesigen, springenden Ball. So musste sich der Wunsch nach einem echten Abenteuer anfühlen: genau so! Warum sollte sein Vater dieses Abenteuer bekommen, er hatte doch schon eins. Er saß in der Küche mit tausenden Wörtern im Kopf, die beim Schreiben herumschwirrten, dachte William, die waren sein Abenteuer.
William beugte sich über den Teppich und streckte den kleinen Finger seiner rechten Hand aus. Gleich darauf berührte er den Rücken von William dem Einhundertvierundzwanzigsten. Dann schloss er die Augen.
Carl-Christian Elze, geboren 1974 in Berlin, wuchs in Leipzig auf, wo er immer noch wohnt. Sein Vater war Zootierarzt, sodass er einen großen Teil seiner Kindheit im Leipziger Zoo verbrachte. Er studierte Biologie und Germanistik und später am Deutschen Literaturinstitut. Seit 2006 erschienen mehrere, vielfach ausgezeichnete Gedicht- und Erzählbände. Sein Debütroman „Freudenberg“ (Voland & Quist, 2022) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. „William und der Fliegenkönig“ heißt sein erstes Kinderbuch, das 2025 ebenfalls bei Voland & Quist erschienen ist. (64 Seiten | 18 Euro | ISBN 978-3-86391-438-7)
https://www.voland-quist.de/werke/william-und-der-fliegenkoenig/
Illustrationen von Nele Brönner
plötzlich ist er da
ein winziger meteorit aus wolle
mit sehr dünnen beinen
kurz vor dem einschlag
in dieser sekunde
magisch schwebend
vor einer blüte
nicht einmal die komplexität
eines norwegerpullis
würde ihn beeindrucken
er schwelgt vollkommen
in der betrachtung der blüte
mit einer tiefen zuneigung
zu den
peer gynt suiten
Reinhard Krehl
Bid/Fotocredits: Reinhard Krehl
Erlebnisbericht 8:
Neuanfang
manchmal schlafe ich
in Mauerritzen
im Schein von gelben Flechten
Käfer wirken plump
wir staunen
wenn sie ihre Flügel öffnen:
ein Käfermoment
manchmal sehe ich meine Welt
von oben
im Licht eines Sterbens
Jutta v. Ochsenstein
(In: „dennoch atmen“ edition offenes feld Dortmund 2025)
Fotocredits: Von Didier Descouens - Eigenes Werk, CC BY 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9972580
Noch so etwas wie
Schale am Sommervogel
der seinen Saum
abstreift wie ein Morgen
seine Nacht
Wären doch die Flügel
des Falters mein neues Gewand
bei deren Anblick ich wie für
einen Augenblick die Lippen
der Libertas liebkose
Bevor das Davonfliegen
des Schmetterlings
bevor ein einziger Flügelschlag
mich zurückwirft
Sonja Crone
Fotocredit: Werner Seiler (User:Centine) - Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=184886
Einmal brachtest du mir einen Hirschkäfer.
Wir suchten abseits der Straße,
junge Nesseln lachten über unsere Hände,
und dein Nacken war ruhig so wie im Film,
der dich als Kind zeigt: immer kehrst du
einem den Rücken bis auf dieses Mal.
Du hast den Käfer verstanden.
Seine Rüstung war in deinen Augen
eine aus Teersümpfen gehobene Waffe,
die riesigen Kiefer nichts
als gefährlich verschwiegener Schmuck,
aber mir gab der Körper
auf deiner Hand keine Auskünfte,
ob da ein Herz war, Furcht, Beschleunigung
seines Blutes oder ein Ansteigen
der Temperatur der Hand,
die du stillhieltest
für das Wappentier der Rückzüge.
Sylvia Geist
Das Gedicht ist ursprünglich erschienen in: Sylvia Geist; „Vor dem Wetter", Luftschacht Verlag Wien 2009. Veröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin. www.sylviageist.de
Fotocredits: Von Bugman95 - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28174031
Erlebnisbericht 5:
Florfliege
zwischen Körnchen aus Schnee
die an die Scheibe klicken
kriecht eine Florfliege
nur wenige Schritte
sie geht behutsam
dann bleibt sie stehn
der Wind reißt die Flügel ihr
über den Kopf
die Flügel klatschen auseinander
zwei kleine und zwei große Flügel
klappen wieder zurück
an den Körper
sie hält sich am Glas
auf der anderen Seite
wo ich mich blass gespiegelt sehe
fast eine Stunde
bleibt sie auf Tuchfühlung
zu einem großen, erleuchteten Raum
Udo Grashoff
Fotocredits: Von Fedaro - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=126040827
Erlebnisbericht 4:
mit ameisen im bett bin ich nie einsam
sieben acht ameisen mit zarter
handbewegung geschmissen
so viele wesen in meinem bett
die letzte mit papier
rausgerissen zartes papier
die ameise mit an bord
auf den boden segeln lassen
vielleicht kommen sie
so gerne in mein bett
because the love to fly
landen gut
und die lust am weiblichen ejakulationssaft
the ants remember
they loved our juicesness
bewegung im schlaf
13 ameisenbisse around my vulva
they are still there
i am no-
ich werde nicht allein
in meinem bett schlafen
solo with my art gedichte bilder
welcome ants
lass euch fliegen
Marion Steinfeller
(Gedicht erstveröffentlicht in: "Mein lesbisches Auge 23: Einsamkeit", Konkursbuchverlag Tübingen 2024)
Foto: Kurt Mondaugen
In der Gartenlaube plötzlich auf ein Riesenrudel
Ameisen gestoßen: die kleinen Bekannten und zudem
eine ganze Menge sehr großer Exemplare mit Fügeln,
die sich sehr wichtig tun, direkt an der weißgetünchten
Holzwand hinter der Spüle – was soll man da machen,
wenn man nicht Mörderin werden will? Ich bitte die Tiere
um Verzeihung und gehe den Handstaubsauger suchen,
der hier seit fünfzehn Jahren liegt, noch nie verwendet.
Beim nächsten Eintritt in die Küche wimmelt die ganze Wand
von den Kleinen und den Geflügelten, Menschen und Engeln
gleich, und ich mache mich zum Gott und putze sie weg, und
ich, Gott also, überlasse es dem Schicksal, also dem Sauger,
wer überlebt, wem es den Kopf wegreißt oder nur die Füßlein:
kein böser Wille, nur mein „Es muss etwas getan werden“-Wille
geschieht hier, der manche das Leben kostet, aber doch auch
ein paar Chancen verteilt – am Ende meines Tuns jedenfalls
verstehe ich die Götter und ihre heiklen Aufgaben besser. Ich
lege, um Wiederkehr zu verhindern, Lavendel aufs leere Grab,
den mögen sie nicht. Mich selbst lege ich dann ins trockene,
ausgefranste, etwas stachelige Gras und putze erstmal meine
Fühler, dabei lese ich etwas über den suizidalen Wittgenstein,
und den ganzen Abend, wirklich den ganzen restlichen Abend lang
krabbeln unsichtbare kleine Füße auf mir herum. (Wegameisen
werden bis zu sieben Jahre alt.)
Annette Hagemann
(aus: „Katalog der Kiefermäuler“, edition offenes feld 2024)
Bild: Dorit Löffler
Erlebnisbericht 2:
Zitterpartie
Draußen taute langsam der Schnee.
Auf der salpetrigen Kellerwand leuchtete mir ein Tagpfauenauge entgegen. Falsche Zeit, falscher Ort, dachte ich und spürte einen Rettungsimpuls, um die scheinbar zu früh vollendete Metamorphose vor einer Sinnlosigkeit zu bewahren. Vielleicht aber präsentierte sich hier gerade ein strammer Überwinterer?
Ein moderat geheiztes Zimmer zur Aufwärmung, Zuckerwasser als Nahrungsquelle, Begegnungen mit Artgenossen und erkenntnisfördernde Aktionen sollten ihre, denn es war ein Weibchen, Lebenszeit bereichern, bis ich sie ins frühlingsduftende Blütenmeer würde auswildern können.
Sie entrollte ihren Rüssel und kontaktierte damit den Zuckerwasserberg, den ich ihr vor die grazilen Beinchen getropft hatte. Sie machte Super-SlowMo-Bewegungen mit ihren beeindruckenden Flügeln, sie zitterte am ganzen Körper. Genuss, Ekel, Fernweh, Lust? - schließlich war Fastnacht!
Die Kommunikation blieb fragwürdig.
Ich zeigte ihr den kleinen Fuchs, der vor Jahren im selben Keller meine Aufmerksamkeit erregt und meine Fürsorge getriggert hatte. Bis zum Frühling konnte ich ihn damals nicht retten, aber als "Archiv-Falter" in künstlerischer Ummantelung unter Klebeband hatte er die vergangenen zwanzig Jahre mumifiziert und in alter Pracht überstanden.
Das Tagpfauenauge zitterte erneut. Du Profiteurin des Klimawandels, hast du jetzt Angst vor der Realität? War der leblose Artgenosse ihr ein böser Wink mit dem Zaunsfalter?
Gut, dann eben ein vitales Exemplar. In Ermangelung weiterer Lepidoptera stellte ich einen Spiegel in ihr Sichtfeld. Sie verharrte unbeweglich. Erkenntniskonfusionen müssen durch ihr Resthirn gerast sein. In ihrer wie eingerasteten Erstarrung glich sie einem Modellinsekt. Ich folgte ihrer Darbietung mit der Kamera.
Die Möglichkeiten des Missverstehens schienen sich zu erweitern.
Erneutes Zittern. Infolge dieser Gegenüberstellung setzte bei ihr umfassende Appetitlosigkeit ein. Das Zittern wurde seltener, der Flügelschlag nur noch Millimetersache. Ihr Glaube an den nahenden Frühling verließ sie und desillusioniert machte sie keine weitere Bewegung mehr.
Sie hat es nicht bis zu den blühenden Landschaften geschafft, aber unsere Begegnung wirkt bis ins Heute fort, fünf Jahre nach ihrer facettenaugenblicklichen Selbsterkenntnis.
HAEL YXXS
1. März 2025
(Fotos: HAEL YXXS)
Und diese Libelle setzt sich zu mir auf die Hand… Und sie starrt mich an. Und sie starrt mich mit ihren Komplexaugen an. Und sie meint mich. Und sie meint, mich zu erinnern, und sie meint, mich erinnern zu müssen, sagt sie: eine Rückführung in meine Kindheit zu meinen insektischen Urängsten. Und es fühlt sich tatsächlich ein wenig seltsam und gefährlich an, sie da so sitzen zu haben, diese Libelle – einfach so auf meinem Handrücken. Denn ein älterer Junge aus der Nachbarschaft, hatte in meiner Kindheit behauptet, dass Libellen mit ihrem langem Hinterteil stechen würden. Und irgendwie habe ich diese Vorstellung nie ganz verwunden, denke ich in diesem Moment. – Und ob ich bereit sei, mich hypnotisieren zu lassen, fragt die Libelle jetzt in ihrer entlegenen Insektensprache, die ich gleichwohl verstehe, denn ich habe an der Uni früher mal ein paar Semester Sprachphilosophie studiert, sage ich ihr: Konversationsmaximen nach Grice und Sprechakttheorie nach Austin und den zwanglosen Zwang des besseren Arguments nach Habermas. – Und das sollte ja wohl ausreichen, denke ich, und ich nicke also mit meinem Kopf, der mir jetzt auch schon irgendwie ganz schön entlegen vorkommt… Und dann elektrifizieren die Bewusstseinsströme der Libelle meine Großhirnrinde.
Und plötzlich sitze ich wieder als Dreijähriger in der winzigen Wohnstube im Haus meiner Oma am Tisch und sehe drei filigranen Stubenfliegen zu, die sich in wilden Flugpirouetten um einen vergessenen Kuchenkrümel auf der Wachstuchtischdecke zu schaffen machen. Und die Show ist für mich so etwas wie das Nachmittagsprogramm von KIKA Jahre später für meine Kinder sein wird. Aber in meiner Kindheit gab es noch kein KIKA im Fernsehen. Und so sind die wilden Flugbahnen der Stubenfliegen die Hauptattraktion an diesem Nachmittag. – Bis meine Oma aus der Küche hereinkommt und die Fliegen vom Tisch aufsteigen sieht und ruft: „Verdammte Biester, da mött ick jetz a‘er mal muxen!“ Und eine halbe Minute später kommt sie wild entschlossen mit einer Sprühflache aus der Küche zurück, auf der der DDR-Markenname MUX steht.
Und dann vernebelt meine Oma den ganzen Raum voll krass mit DDT. – Aber das wusste damals noch niemand, weil damals noch niemand ins Internet gehen konnte, um das einfach mal bei Wikipedia nachzuschlagen, dass in MUX dieses hochgiftige und krebserregende DDT drin war – hochgiftig und krebserregend nicht nur für die Fliegen, wohlgemerkt! Und weil man das alles damals noch nicht wusste, war damals die eiserne Regel, nach dem Muxen mindestens eine Viertelstunde lang weder die Zimmertür noch das Fenster zu öffnen – bis sich das Gift bis tief in die Tracheen der Fliegen eingegraben hätte, und bis sie aufhören würden, um einen herum zu summen, diese Fliegen, und bis sie sich auf die Fensterbank legen würden, um zu sterben.
Und ich bin drei Jahre alt und beobachte also in diesem Moment zusammen mit meiner Oma das Sterben der Fliegen auf der Fensterbank durch diesen krassen DDT-MUX-Nebel hindurch, und ich frage meine Oma alle drei Minuten, wann die Viertelstunde denn endlich vorbei wäre, weil es so eklig riechen würde, und ich huste auch schon ein bisschen vor mich hin. „Och min Jung: een bettchen mött‘n wir noch uthalten – dat Muxen schadt‘ uns nix, nur die Fliejenviecher geh’n doot davon!“ antwortet meine Oma mir alle drei Minuten in ihrem Bördeplatt. Und überhaupt sind fast alle Insekten für sie damals Volksschädlinge.
Und Volksschädlinge muss man totmuxen, so denkt meine Oma, und so denken fast alle Erwachsenen damals im Osten, und deshalb bekomme ich also als Dreijähriger in der DDR volle Kanne DDT gratis in die Lungen gepumpt, meine halbe Kindheit lang, bis MUX eines Tages doch durch ein anderes, noch besseres Mittel aus dem Westen ersetzt wird…
- „Nun, das erklärt einiges von dem, was mit dir los ist, Kurt: Kurt Mondaugen auf DDT!“ höre ich meine hypnotische Libelle inzwischen im Hier und Jetzt sagen. Und sie fixiert ihren Blick noch intensiver auf meinen, und sie lässt mich nicht aus ihren Komplexaugen. „Kurt, du musst jetzt den verdammten Insekten-Krieg beenden da draußen, der bringt uns alle noch um, und der bringt auch Euch Menschen alle noch um!“ Und die Libelle spielt mir ein Hardcore-Video auf die Retina, auf dem ein Traktor mit angehängtem 15 Meter breiten Gift-Sprühaggregat über ein riesiges Maisfeld am Rande der Leipziger Tieflandsbucht fährt und ein Breitband-Herbizid auf die letzten schlappen Insektenpopulationen des Ackers spritzt.
Und während das Video läuft, liest mir die Libelle sehr eindringlich eine sehr unerfreuliche Erlebnispassage aus Rahel Carsons Buch „Der stumme Frühling“ von 1962 vor:
„Sie sprühten die tausend Quadratmeter großen Grundstücke der Vorstädte, verschonten auch eine Hausfrau nicht, die sich verzweifelt bemühte, ihren Garten abzudecken, bevor die dröhnenden Flugzeuge sie erreichten. Sie überschütteten spielende Kinder und wartende Fahrgäste an den Eisenbahnstationen mit dem Insektizid. In Setauket trank ein schönes Pferd aus einem Trog auf einem Feld, das die Flugzeuge besprüht hatten: zehn Stunden später war es tot."
Und tatsächlich hat auch meine Oma mir als Kind beigebracht, alles, was krabbelt und rumsummt und sirrt und schwirrt – egal, ob innerhalb oder außerhalb des Hauses – und eigentlich sogar alles, was anders ist als „wir“ – wobei nicht ganz klar war, wen sie mit „wir“ meinte: alle Menschen oder alle Deutschen oder alle Ostdeutschen – mit übersteigertem Argwohn zu betrachten und es auch so zu behandeln. – Das fällt mir jetzt das erste Mal auf, denke ich, und ob sie heute wohl auch AFD wählen würde, wenn sie noch lebte, überlege ich… Aber da holt mich die Libelle endgültig zurück aus meinem Erinnerungen, und saugt mir mit ihren magisch leuchtenden Facettenaugen das ganze MUX und DDT meiner Zonenkindheit aus dem Gehirn raus.
Und dabei flüstert sie: „Und im Westen war das mit dem DDT irgendwie auch nicht anders, Kurt! – Ihr müsst wirklich alle lernen, das Insekt in Euch endlich zuzulassen!“
Und dann schwirrt mein Insekt übers Wasser davon…
Kurt Mondaugen
https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2018_Diskussionspapier_Pflanzenschutzmittel.pdf
(Foto: Kurt Mondaugen)
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